Schnittstelle Alltag: Transfer und Teilhabe in der Sprachtherapie
Text & Bild: Judith Heide
Angesichts klirrend kalter Temperaturen waren viele vielleicht gar nicht so unglücklich, dass das Herbsttreffen Patholinguistik auch in diesem Jahr online stattfand. Rund 275 Teilnehmende nutzen Zoom (für die Vorträge und Workshops) und Discord (für die Posterpräsentation, Aussteller und zum persönlichen Gespräch), um den 19. November 2022 gemeinsam zu verbringen.
»Transfer und Teilhabe in der Sprachtherapie« war das diesjährige Schwerpunktthema, das am Vormittag in Bezug auf erworbene Sprach- und Sprechstörungen beleuchtet wurde. Frank Ostermann (Klinischer Linguist und akademischer Sprachtherapeut) berichtete ausgehend von seinen Praxis-Erfahrungen von der Last und Lust der Partizipation und fokussierte dabei sowohl Patient:innen mit globaler Aphasie als auch Personen mit Restaphasie. Er vermittelte konkrete Tipps und Ideen, wie die soziale Interaktion sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum verbessert werden kann. Eine spannende Erkenntnis: Kommunikationsbücher sollten nicht von den (schwer betroffenen) Patient:innen gemanagt werden, sondern besser von dem/der jeweiligen Kommunikationspartner:in. Prof. Dr. Norina Lauer (OTH Regensburg) und Prof. Dr. Sabine Corsten (Katholische Hochschule Mainz) stellten zwei Projekte vor, die die Lebensqualität von Patient:innen mit Aphasie verbessern sollen. Das Projekt »shalk« belegt die positive Wirkung von Selbsthilfegruppen (Peer Support Groups), die sich vor allem dann zeigt, wenn die Gruppen von Betroffenen (mit)geleitet werden. Eine digitale Vernetzung von Personen mit Aphasie ist über die eigens entwickelte, barrierefreie App PeerPAL möglich, in der Kontakte geknüpft und Aktivitäten geplant werden können.
Im zweiten Block erläuterte Dr. Kerstin Nonn (Klinikum der LMU München), wie Transfer und soziale Teilhabe für unterstützt kommunizierende (uk) Kinder gelingen kann. Grundlegende Herausforderung ist hierbei die Asymmetrie im Spracherwerb, da der Input aus Lautsprache besteht, als Output aber UK erwartet wird. Zudem fehlen den Kindern im Alltag UK-Sprachvorbilder. Ausgehend von der ICF und dem kooperativen Partizipationsmodell (Lage & Knobel Furrer, 2017) werden Ziele systematisch geplant. Dabei wird darauf geachtet, dass eine UK-Handlung die Partizipationsmöglichkeiten sofort und ohne Aufwand vergrößert. Welche Erfolge erzielt werden können, wurde anhand eines Fallbeispiels eines 4-jährigen Jungen mit Autismus-Spektrum-Störung sehr eindrücklich deutlich. Ulrike Felsing (Praxis für Logopädie und Kommunikation, Berlin) richtete in ihrem Vortrag den Blick auf die Beziehungsgestaltung in der Zusammenarbeit mit Eltern. Ein lösungsorientiertes Vorgehen, die klientenzentrierte Ausrichtung und Grundhaltung und die Formulierung von SMARTen Therapiezielen wurden von ihr einen sehr überzeugenden und praxisnahen Gesamtzusammenhang gebracht.
Drei Aspekte wurden immer wieder und in unterschiedlichen Zusammenhängen thematisiert:
- Partizipation ist ein Kontinuum. Partizipation kann bedeuten, dass ein Kind per Kartenwahl ausdrücken kann, dass etwas »nochmal« gemacht werden soll. Partizipation kann aber auch heißen, dass eine Person mit Restaphasie ihre Dissertation beendet.
- Ohne das Umfeld ist Partizipation nicht möglich. Eltern und Angehörige, ggf. auch Freund:innen und Kolleg:innen müssen in die Therapie einbezogen werden. Dies ist in der Leistungsbeschreibung (Anlage 1 zum Vertrag nach § 125 Absatz 1 SGB V) auch unmissverständlich festgehalten. »Die prozessimmanente Beratung der oder des Versicherten und ihrer oder seiner Bezugs-/Betreuungspersonen innerhalb der Therapie ist unverzichtbarer Bestandteil der Stimm-, Sprech-, Sprach- und Schlucktherapie.« (S. 4).
- Für die Planung von Partizipationszielen ist eine interprofessionelle Zusammenarbeit unerlässlich. Geeignete Formate sind z.B. Patientenkonferenzen und Moderierte Runde Tische.
In Ergänzung zu den Hauptvorträgen stellten drei Kurzreferate jeweils eine spezifische Methode vor, mit der die Verknüpfung von Therapieinhalten und Alltagskommunikation gelingen kann. So erläuterte Prof. Dr. Sandra Neumann (Universität Erfurt) den FOCUS©-34-G, mit dem die kommunikativen Partizipation von Kindern unter sechs Jahren z.B. im Rahmen einer Vorher-Nachher-Diagnostik erfasst wird. Dr. Patricia Sandrieser (Katholisches Klinikum Koblenz/Montabaur) plädierte am Beispiel der Stottertherapie für eine sehr transparente Vertragsarbeit, die auch mit jungen Kindern durchaus möglich ist. Verena Nerz (Praxis für Logopädie, Beratung und Supervision, Reutlingen) gab abschließend fünf Impulse, wie sprachtherapeutische Hausaufgaben wirksam eingesetzt werden können, ohne zu frustrieren. Besonders berührend war die Präsentation des Aphasiker-Chors AphaSingers aus Frankfurt am Main. Romy Steinberg (Hessischer Landesverband für die Rehabilitation der Aphasiker e.V.) stellte das Probenkonzept vor, in dem Kommunikation und Austausch einen hohen Stellenwert haben. Die Freude der Sängerinnen und Sänger, Teil einer Gruppe zu sein, war in den Videoausschnitten deutlich spürbar.
Fünf Workshops, die eine breite sprachtherapeutische Themenpalette aufgriffen, rundeten das Programm ab.
Zeit für den direkten fachlichen und persönlichen Austausch bestand in den großzügig bemessenen Pausen bei Discord. Hier konnte man sich die virtuellen Stände der Aussteller neolexon, Lingo Lab und Rehavista anschauen, die gemeinsam mit den Duden Instituten für Lerntherapie, KinderUK, memole und dem NAT-Verlag das Herbsttreffen finanziell unterstützt haben.
Außerdem konnte man mit den Posterpräsentator:innen ins Gespräch kommen, die aktuelle Forschungs- und Praxisprojekte präsentierten. Traditionell wurden die drei besten Präsentationen mit Preisen ausgezeichnet. Antje Kösterke-Buchardt (Logopädische Praxis im HNC, Potsdam), Dorothea Pregla (Universität Potsdam) und Ass.-Prof. Dr. Susanne Seifert (Universität Graz) bildeten die Poster-Jury und waren von der hohen Qualität aller Einreichungen begeistert. Sie zeichneten die folgenden Poster aus – herzlichen Glückwunsch!
- Platz (dotiert mit 100 €)
Alicia Kluth, Marilyne Lemire-Tremblay, Kevin Jamey, Simone Dalla Bella & Simone Falk (Ludwig-Maximilians-Universität München & Université de Montréal):
Auswirkungen eines nonverbalen Rhythmustrainings auf die Sprechmotorik und Sprechflüssigkeit bei stotternden Kindern - Platz (dotiert mit 70 €)
Tena Grahovac (Universität Potsdam & Charité – Universitätsmedizin Berlin):
Die Basalganglien bei der Lautstärkeverarbeitung: Was bedeutet das für Personen mit Morbus Parkinson? - Platz (dotiert mit 30 €)
Constanze Kleingünther & Katrin Gabler (Freie Universität Berlin):
Zur Quantität und Qualität der Zusammenarbeit zwischen logopädischen Praxen und der Grundschule in Berlin: Pilotierung eines Erhebungsinstruments zur Erfassung der aktuellen Praxis
Das Herbsttreffen Patholinguistik war auch in diesem Jahr von einer sehr kollegialen und lebhaften Atmosphäre geprägt. Durch den Wechsel zwischen Zoom und Discord war es eine äußerst kurzweilige Veranstaltung, die hervorragend moderiert wurde. Mehrere Referentinnen betonten, wie gut sie sich vom Organisations-Team betreut gefühlt haben. Ein herzlicher Dank geht daher an die Team Herbsttreffen: Alina Wilde, Hanna Wunderlich, Lara Hamburger, Ragna Krug, Sarah Düring, Sarah Tan und Tom Fritzsche.