Interdisziplinär (be-)handeln: Multiprofessionelle Zusammenarbeit in der Sprachtherapie
Text: Tom Fritzsche, Bild: Verband für Patholinguistik
Ein grauer Samstagvormittag im November. Die meisten Bäume haben ihr Laub bereits abgeworfen. Draußen raschelt es, wenn der Wind die Blätter über den Boden fegt. Drinnen, in vielen Zimmern überall in Deutschland, leuchtet der Bildschirm. Steht die Internetverbindung? Funktionieren Kamera und Mikro? Sind die Zugangsdaten die richtigen? Reichen Kaffee und Snacks für den Tag? So in etwa war die Situationen kurz vor 9 Uhr für die vielen Teilnehmer:innen des 15. Herbsttreffens Patholinguistik. Knapp 300 Personen waren registriert – ein Besucherrekord! Das Schwerpunktthema „Interdisziplinär (be-)handeln: Multiprofessionelle Zusammenarbeit in der Sprachtherapie“ hatte offenbar einen Nerv getroffen.
Nach einer kurzen Einführung und Erklärung zum technischen Ablauf und zum prall gefüllten Programm startete die Tagung mit einer Publikumsumfrage. Dabei zeigte sich, dass 44% der Anwesenden zum ersten Mal beim Herbsttreffen waren. Über die Hälfte (51%) des Publikums arbeitet in einer sprachtherapeutischen Praxis, 18% in Kliniken oder stationären Einrichtungen, 12% in Forschug und Lehre und 7% in pädagogischen Einrichtungen (da manche Teilnehmer:innen in mehreren Einrichtungen arbeiten, übersteigt die Summe 100%). Knapp ein Drittel der Anwesenden (30%) absolvieren derzeit eine sprachtherapeutische Ausbildung oder ein Studium. Von den praktizierenden Anwesenden beschäftigen sich 71% hauptsächlich mit Kindern und Jugendlichen, wohingegen 29% hauptsächlich mit erwachsenem Klientel arbeiten. Dieser Hintergrund war interessant, um das Stimmungsbild zur eigenen interdisziplinären Arbeit einzuordnen, das ebenfalls zu Beginn mit einigen Fragen an das Publikum eingeholt wurde und in der Diskussionrunde am Ende des Tages in die Debatte einfloss.
Die Vortragsrunde eröffnete das Duo der beiden Schwestern Katrin Frank (Physiotherapeutin) und Dr. Ulrike Frank (Patholinguistin) in einem gemeinsamen Vortrag zum Thema „Intensivmedizin geht nicht allein“. Dieser verdeutlichte anschaulich, wie interdisziplinäre Arbeit in diesem Setting ablaufen kann und sollte. Dabei kam v.a. zum Ausdruck, dass die Ziele der verschiedenen Disziplinen in Bezug auf die Patient:innen nicht dieselben sind und wie wichtig es ist, dass alle Beteiligten aus Therapie, Pflege und Medizin sich verständigen und das Erreichen der unterschiedlichen Ziele zum Wohle der Patent:innen ermöglichen.
Der Vortrag von Prof. Dr. Bettina Mohr (Neuropsychologin/Psychotherapeutin) thematisierte die Depression bei Aphasie infolge eines Schlaganfalls (post-stroke depression). Ihr ging es darum zu zeigen, welchen Einfluss die Sprache bzw. deren Verlust auf die Diagnose hat und welche Rolle sie in der Behandlung spielen kann bzw. muss. Frau Mohr stellte drei Therapiekonzepte vor, anhand derer sie darlegte, wie Psycholog:innen und Sprachtherapeut:innen abgestimmt und auch gemeinsam vorgehen sollten.
Im nächsten Vortrag wechselte der Fokus in den Kinderbereich. Dr. Stephanie Kurtenbach (Klinische Sprechwissenschaftlerin) stellte das Konzept der sensorischen Integration vor. Dabei war es ihr ein Anliegen zu zeigen, dass das in der Ergotherapie entwickelte Konzept viele Einsatzmöglichkeiten in der Sprachtherapie hat, aber Sprachtherapeut:innen eben Sprachtherapie machen und keine Ergotherapie. Ein Austausch zwischen den therapeutischen Disziplinen erweitert somit das Methodenrepertoire, aber nicht das Behandlungsgebiet.
Wie komplex sich die Situation der Sprachtherapie und -förderung im schulischen Kontext darstellt, veranschaulichte Prof. Dr. Stephan Sallat (Pädagoge) in seinem Vortrag zur alltags- und unterrichtsintegrierten Intervention und Prävention. Die in diesem Umfeld agierenden Professionen sind – je nach Auftrag – in drei verschiedenen Systemen mit eigener Struktur und Finanzierung angesiedelt: dem Bildungs-, dem Sozial- oder dem Gesundheitssystem. Dies führt zu Herausforderungen, gerade in den Grenzbereichen der Zuständigkeiten, die es zum Wohl aller Betroffenen zu überwinden gilt. Eine Möglichkeit dazu sind Netzwerke, für deren Schaffung und Aufrechterhaltung aber die nötigen Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen.
Im letzten Vortrag des Tages beleuchtete Dr. Lilli Wagner (Sprachheilpädagogin) die Mehrsprachigkeit als interdisziplinäre Herausforderung. Sie stellte verschiedene Instrumente zur Diagnostik von Sprachentwicklungsverzögerungen bei mehrsprachigen Kindern vor und machte deutlich, wie wichtig hier ein interdisziplinärer Dialog ist, um Fehldiagnosen und vor allem auch ausbleibende Diagnosen zu vermeiden. Am Ende kamen auch interkulturelle Kompetenzen zur Sprache, die auf diesem Gebiet eine positive Rolle spielen können.
Im Anschluss an die Vorträge fand eine Podiumsdiskussion statt. Dazu waren vier Sprachtherapeutinnen eingeladen, die jeweils kurz ihren interdisziplinären Alltag darlegten: Anika Lubitz (Theraphysia), Jonka Netzebandt (P.A.N. Zentrum, Berlin), Dr. Julia Klitsch (Grundschule an der Peckwisch, Berlin) und Kirsten Schnelle (SPZ Potsdam). Dabei wurde zum einen deutlich, wie wichtig die Kommunikation zwischen den Disziplinen ist, nicht nur, um Ziele und Methoden der jeweils anderen Profession nachvollziehen zu können und sich auf Augenhöhe zu begegnen, sondern auch, um Abläufe organisatorisch so zu gestalten, damit alle Beteiligten Fortschritte mit den Klient:innen und Patient:innen erzielen können. Einigkeit herrschte darüber, dass flache Hierarchien hierzu förderlich sind und die Rahmenbedingungen – vor allem im ambulaten Bereich – verbessert, zum Teil auch erst geschaffen werden müssen. Die Antworten aller Anwesenden in der anfangs durchgeführten Umfrage zu deren Zufriedenheit mit der interdisziplinären Zusammenarbeit und den dafür genutzten Kanälen deckte sich mit denen der Runde auf dem Podium. Der Austausch und die Kommentare zeigten, dass es Handlungsbedarf gibt. Es wurde aber auch thematisiert, dass gegenseitiger Austausch und Wertschätzung in den letzten Jahren zugenommen haben – ein positiver Trend, den es auszubauen gilt.
Bereits im Vorfeld der Tagung konnten die eingereichten Poster und Informationen von drei Aussteller-„Ständen“ (Rehavista, Lingo Lab und neolexon) besichtigt werden. Dazu wurde die Plattform Discord genutzt, zu der die Teilnehmer:innen eingeladen wurden. Am Konferenztag selbst boten zwei Programm-Blöcke à 45 Minuten Gelegenheit, mit den Poster-Referentinnen und den Austeller:innen ins Gespräch zu kommen. Der Andrang war groß.
Die Posterthemen spannten einen weiten Bogen, vom False-Belief-Verständnis bei Kindern und Jugendlichen mit Down-Syndrom über die App-basierte Therapie von Wortabrufstörungen bei Aphasie, dem Vergleich von Diagnostikinstrumenten frühkindlicher Entwicklung, dem evidenzbasierten Handeln im externen Praktikum des Studiums der Patholinguistik, bis hin zur Einschätzung der Technikbereitschaft für Teletherapie und klinischen Markern in der Spontansprache früh-sukzessiv bilingualer Kinder.
Wie in den Vorjahren wurde ein mit 200 Euro dotierter Posterpreis verliehen. Eine dreiköpfige Jury hat bereits vor der Tagung alle Poster begutachtet und anhand eines Kriterienkatalogs bewertet. Die Jurymitglieder Maria Blickensdorff (Logopädie in Kreuzberg, Berlin), Dr. Jenny v. Frankenberg (ZaPP Berlin) und Sarah Tan (FU Berlin) sind alle Patholinguistinnen mit langjähriger Erfahrung auf verschiedenen Gebieten der Sprachtherapie. Die Preisverleihung erfolgte am Ende der Veranstaltung. Die Preisträgerinnen sind:
- 1. Platz: 100 €
Johanna Schmidt, Maren Eikerling & Joana Cholin (Universität Bielefeld, IRCCS E. Medea & Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg):
Klinische Marker in der Spontansprache früh-sukzessiv bilingualer Kinder mit Deutsch als Zweitsprache - 2. Platz: 70 €
Almut Plath, Marie Hoffmann, Bianca Spelter, Juliane Leinweber, Sabine Corsten & Sven Karstens (Katholische Hochschule Mainz, Hochschule Trier & HAWK Hildesheim / Holzminden / Göttingen):
Technikbereitschaft für Teletherapie erfassen: Adaption einer validierten Kurzskala für Menschen mit chronischer Aphasie - 3. Platz: 30 €
Dorit Schmitz-Antonischki, Judith Heide & Jonka Netzebandt (Universität Potsdam & P.A.N. Zentrum, Berlin):
Therapie von Wortabrufstörungen mit der App LingoTalk bei einer Patientin mit Aphasie: Eine Therapiestudie
Abgerundet wurde das Programm mit Kurz-Workshops ab 16:30 Uhr. Fast alle Workshopplätze waren ausgebucht. Zur Auswahl standen sechs Workshops: Erstellen von interaktivem Therapiematerial mit dem iPad (Alexander Fillbrandt), Üben mit LAX VOX® (Thomas Lascheit), ein Praxisbeispiel für die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der ambulanten Therapie (Anika Lubitz und Claudia Fröhlich), psychische Widerstandsfähigkeit für gesunde Therapeut:innen (Ina Kimmel), Störungen der Nahrungsaufnahme bei Säuglingen und Kleinkindern (Anne-Marie Horn und Michal Streppel) und Sprachstandsdiagnostik bei ein- und mehrsprachigen Kindern mit SCREENIKS (Dr. Lilli Wagner).
Das Herbsttreffen-Team möchte sich an dieser Stelle bei allen Helferinnen bedanken sowie bei den Unterstützer:innen, die das Herbsttreffen möglich gemacht haben: REHAVISTA, neolexon, Lingo Lab, die DUDEN Institute für Lerntherapie, THERAPIEexperte, der Fortbildungsfinder und MEMOLE.
18:10 Uhr. Draußen ist es bereits dunkel. Zeit, den Bildschirm auch abzuschalten. Ein informationsreicher Tag, der auch viel Gelegenheit zum Austausch bot, geht zu Ende. Einige Ideen und Begegnungen bleiben sicherlich länger im Gedächtnis. Für die vielen anderen Anregungen und Fakten wird im nächsten Sommer der Tagungsband erscheinen. Und im November 2022 trifft man vielleicht einige bekannte Gesichter wieder – beim 16. Herbsttreffen Patholinguistik.